«Heimsuchung» ist die Bühnenadaption nach dem gleichnamigen Roman der Autorin Jenny Erpenbeck. Sie feierte gerade im Wolfgang Borchert Theater ihre Premiere.
Mit diesem ebenso bewegenden wie anspruchsvollen Abend startet Intendantin
Tanja Weidner – diesmal auch als Regisseurin und Autorin der Bühnenfassung sowie verantwortlich für Bühne und Kostüme – in die neue Spielzeit.
«Heimsuchung» ist ein starker Auftakt und ein Versprechen obendrein: Das Borchert Theater will seine Zuschauer nicht nur bespaßen und unterhalten. In «Heimsuchung» bekommen die grauen Zellen einiges zu tun. In emotionalisierten und dystopischen Zeiten ist dies ausgesprochen wohltuend. Gerade jetzt brauchen wir die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit, um uns in einer zunehmend verunsichernden und polarisierten Gegenwart sachlich, distanziert und kritisch bewegen zu können.
Jenny Erpenbeck verarbeitet in ihrem historischen und vielschichtigen Roman aus dem Jahr 2008 Kindheitserinnerungen bei ihren Großeltern in einem Haus am Scharmützelsee in der Nähe von Berlin. «Heimsuchung» wurde 2019 auf die Guardian-Liste der «100 besten Bücher des 21. Jahrhunderts» gesetzt und ist aktueller Lesestoff für das Zentralabitur in NRW.
Dass der gefeierte Roman gerade erst für die Theaterbühne adaptiert wurde, hat auch mit der verwobenen Struktur der Erzählung und der poetischen Sprache von Jenny Erpenbeck zu tun. Tanja Weidner ist es gelungen, in ihrer von der Autorin autorisierten Fassung die Ereignisse um das Grundstück und Haus am Scharmützelsee in eindringliche Bilder und packende Szenen zu übersetzen. Die Schicksale der Protagonisten, die nach dem jeweiligen Zeitgeist ausgewählten Kostüme und die klug eingesetzten Requisiten führen durch die Zeit des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des Dritten Reiches, des Zweiten Weltkriegs, des Wiederaufbaus, der DDR und der Wendezeit.
Das Ensemble trägt diesen Abend mit beeindruckender Präsenz. Vor allem die schauspielerischen Fähigkeiten von
Gregor Eckert (herausragend!),
Markus Hennes (wieder zurück!),
Ivana Langmajer (klasse!),
Rosana Cleve,
Katharina Hannappel (sehr bewegend!) und
Niclas Kunder, die gleich in mehreren Rollen auftreten, sind überzeugend und wunderbar anzusehen. Neuzugang
Carolin Wirth fügt sich perfekt in die Spielweise und Fähigkeiten des Ensembles ein. Und
Florian Bender als schweigsamer Gärtner ist die stille Klammer: ein unbeirrbarer Beobachter, der durch die Jahrzehnte schreitet. Herausgekommen ist ein eindrucksvolles Panorama von 100 Jahren deutscher Geschichte. «Heimsuchung» ist damit auch ein Lehrstück dafür, was Zeitläufte und Geschichte mit den Menschen machen und wie sich ihr Denken verändert.
Ein Haus am See vor den Toren Berlins, ein wahres Idyll, wird Zeuge eines Jahrhunderts schicksalhafter Veränderungen und historischer Umbrüche. Kaiserreich, Weltkrieg, Wiederaufbau und Wendezeit. Menschen werden geboren, leben, verblassen. Idealisten und Karrieristen, Patriarchen und Freidenkerinnen, Soldaten, Auswanderer und Heimkehrer.
In zwölf miteinander verwobenen Lebensgeschichten, Zeitsprüngen und Episoden wird das Haus am See zum Brennglas und Kristallisationspunkt für die Sehnsucht der Menschen nach einem Ort des Friedens. Das Stück zeigt unüberwindbare Grenzen, reflektiert über die Liebe, den Tod und die Suche nach Geborgenheit und Heimat. Doch die Geschichte rollt unerbittlich über das Haus und die dort lebenden Bewohner hinweg. Der Ort erfährt mehrere Metamorphosen. Unter Mozarts Requiem und vor den Augen der ehemaligen Bewohner wird das Haus schließlich in einer Art Epilog dem Erdboden gleichgemacht. Ein starkes, fast erschütterndes Schlussbild.
«Heimsuchung» in Münster ist neben den großartigen Ensemblemitgliedern nicht ohne die nach dem jeweiligen Zeitgeist bestimmten Kostüme und die klug ausgewählten Requisiten mit Architektenrolle, Fender, Hollywoodschaukel, Schreibmaschine und Stippangel denkbar. Die Requisiten charakterisieren den besonderen Ort in seiner Zeit, ohne dass der auf der Bühne tatsächlich zu sehen wäre. Das Bühnenbild ist sehr reduziert, fast abstrakt, ein Podest und ein Klavier reichen, hinzu kommt eine Projektionsfläche, auf der Tobias Bieseke in der inzwischen bewährten Zusammenarbeit einige Reels als Zeitdokumente aufblitzen lässt. Der Ort wird ganz durch die Vorstellungen der Zuschauer gefüllt. Tanja Weidner schafft es, den jeweiligen Zeitgeist aufblitzen zu lassen, sodass der Zuschauer immer unmittelbar weiß, in welchem Jahrzehnt er sich befindet.
«Heimsuchung» ist kein leichtes Stück, sondern eine Einladung zur Reflexion. Es bietet einen anregenden Theaterabend, der nachdenklich macht und dessen Bilder und Szenen noch lange nachhallen. Sehenswert!
[Westfalium]