Repertoire

HEIMSUCHUNG

Jenny Erpenbeck

Bühnenfassung von Tanja Weidner

Vorstellungsdauer | 2h15 | Eine Pause
Premiere A | Samstag, 13. September 2025
Premiere B | Sonntag, 14. September 2025
Inszenierung Tanja Weidner
Bühne Kostüme Tanja Weidner
Mitarbeit_Bühne Bernd Heitkötter
Mitarbeit_Kostüme Linda Scaramella-Hedwig
Videoart_Sounddesign Tobias Bieseke

Ein Haus am See vor den Toren Berlins, ein wahres Idyll, wird Zeuge eines Jahrhunderts dahinrasender Transformationen. Kaiserreich, Weltkrieg, Wiederaufbau und Wendezeit. Menschen werden geboren, leben, verblassen. Idealisten und Karrieristen, Patriarchen und Freidenkerinnen, Soldaten, Auswanderer und Heimkehrer. In zwölf miteinander verwobenen Lebensgeschichten erzählt der Ort über die Sehnsucht der Menschen nach einem Ort des Friedens, über unüberwindbare Grenzen, über die Liebe, den Tod – und der Suche nach Heimat. Ein Kaleidoskop der conditio humana, erzählt mit poetischer Wucht von Nobelpreisanwärterin Jenny Erpenbeck.

Jenny Erpenbeck (*1967) verarbeitet in ihrem Roman von 2008 Kindheitserinnerungen bei ihren Großeltern in einem Haus am Scharmützelsee. Die Werke der Autorin und Theaterregisseurin wurden in 30 Sprachen übersetzt und vielfach prämiert, u.a. mit dem Thomas-Mann-Preis. 2024 erhielt sie als erste Deutsche den International Booker Prize für ihren Roman Kairos (2021) über eine Schriftsteller-Liebe im Ost-Berlin der 1980er Jahre. HEIMSUCHUNG wurde 2019 auf die Guardian-Liste der «100 besten Bücher des 21. Jahrhunderts» gesetzt und ist aktueller Lesestoff für das Zentralabitur in NRW.

 

 

 

In Kooperation mit der Villa ten Hompel.

Diese Produktion wird gesondert gefördert durch die Provinzial Versicherung. 

«[…] überzeugt durch das gute Schauspiel und die Atmosphäre […].»

Schicksale lassen vergangene Zeit lebendig werden Erinnerungen folgen keinem Muster, sie kommen und gehen, befallen den Menschen, wie es ihnen gefällt. «Sie müssen nicht alles verstehen», beschwört Tanja Weidner vor der Premiere von «Heimsuchung», ihrer Bühnenfassung des Jahrhundertromans von Jenny Erpenbeck, das Publikum. So kann das im Wolfgang Borchert Theater entspannter den vielen Geschichten folgen, die das berühmte Haus am märkischen See zu erzählen hat. Wer in ein neues Haus zieht, weiß meist nichts von den Vorbesitzern. Anders dieses Anwesen vor den Toren Berlins. Gesellschaftlichen und politischen Kräften sowie wechselnden Besitzansprüchen unterworfen, kann es von denen berichten, die dort im Laufe vieler Jahrzehnte ein Zuhause suchten – ein spannendes Unterfangen bei der wechselvollen deutschen Vergangenheit. Erpenbeck hat in ihr Buch Kindheitserinnerungen und Recherchen zum Haus ihrer Großeltern am Scharmützelsee eingearbeitet. Ihre Gedanken und Beschreibungen hat Regisseurin Weidner für die Bühne in Dialoge übertragen. Acht Schauspieler übernehmen die zwölf miteinander verbundenen Schicksale: das vom Großbauern (Gregor Eckert) und seinen Töchtern etwa, das des regimetreuen Architekten (Eckert), der so gerne in die von Joseph Goebbels gegründete Reichskulturkammer aufgenommen werden will, das des Tuchfabrikanten, der Schriftstellerin, der jüdischen Familie, die zu Zeiten der Nazis gezwungen ist, ihr Heim für wenig Geld aufzugeben, das des Mädchens, das seine Erschießung kundtut.  Auch die Kostümierung der Akteure führt durch die Weimarer Republik, den Krieg, die Zeit der DDR und der Wende. Dem Schauspiel reicht ein ein Meter hohes Podium als Haus. Zu Beginn ist es hinter einer Folie versteckt – bis Fenster in sie hineingeschnitten werden und die Story beginnt. Ein hübsches Bild. Aus in das Podium eingelassenen Bodenklappen holen sich die Darsteller nach Belieben die Requisiten, die sie brauchen. Die Borchertsche «Heimsuchung» überzeugt durch das gute Schauspiel und die Atmosphäre, die sie schafft, die Wehmut und das Hoffen auf einen sicheren Hafen dort am See. Dazu wird leise Musik am Piano oder vom Band gespielt. Begleitet wird die Erzählung bis zum Ende vom Gärtner (Florian Bender), der «ums Haus schleicht» und zu gegebener Zeit ordentlich die Axt auf den Holzblock wuchtet,  um ein Zeichen zu setzen. [Die Glocke]
 

Tanja Weidners Inszenierung fesselt

Wenn diese Wände sprechen könnten 100 Jahre deutsche Geschichte in zwei Stunden – ein ziemlicher Ritt. Da sei es verziehen, wenn man mal den Überblick verliert. Zumal die Erzählung nicht als linearer Strang daherkommt, sondern vor- und zurückspringt, hin und wieder auch in mehreren Epochen gleichzeitig spielt. Trotzdem fesselt Tanja Weidners Inszenierung, vorausgesetzt, der Zuschauer lässt sich darauf ein. Aber der Reihe nach. Der eigentliche Protagonist in Jenny Erpenbecks «Heimsuchung» von 2008 ist ein Haus am Scharmützelsee in Brandenburg, beziehungsweise das Stück Land, auf dem es steht. Denn im Grunde beginnt die Geschichte (aus dem Off gesprochen) Tausende Jahre zuvor, als die Gletscher der letzten Eiszeit den Boden zerwühlen und bei ihrem Rückzug den See zurücklassen. Während dieses Prologs verhüllt eine dünne Plastikfolie das Bühnenbild (Weidner), auf der schemenhafte Bilder flackern (Videokunst: Tobias Bieseke). Nach und nach schneiden die Darsteller Fenster hinein, die den Blick auf ein zentrales Podest freigeben. Der Schleier fällt, die Geschichte nimmt ihren Lauf: Ein Großbauer (Gregor Ecker) erlebt das Ende seiner Familiendynastie, sein Land geht unter anderem an einen Architekten (ebenfalls Eckert), der dort ein Haus errichtet. Es folgt ein gutes Dutzend Lebensläufe, Menschen, die die NS-Zeit, die DDR und die Wiedervereinigung in diesem haus durchleben, darunter eine Schriftstellerin, die Erpenbecks Großmutter nachempfunden ist. Sie lieben, sterben, werden vertrieben. Nur Florian Bender bleibt als scheinbar übernatürlicher Gärtner über die Jahrzehnte mit dem Haus verbunden. «Heimsuchung» ist eine enorme Ensemble-Leistung. Jede und jeder (abgesehen von Bender) wechselt mehrmals die Rolle, alle Darstellungen sind für sich bravourös. Vor allem die (wahre) Geschichte der 12-jährigen Doris Kaplan (Katharina Hannappel) und ihrer Ermordung durch das NS-Regime geht unter die Haut. Wer als Zuschauer die ganze Zeit am Ball bleiben will, muss eine ziemliche Leistung erbringen. Man muss aber nicht alles verstehen, um einen ebenso anspruchsvollen wie bewegenden Theaterabend zu erleben. Wer sich darauf einlässt, entwickelt früher oder später eine Verbindung zu dem Ort, der nur andeutungsweise auf der Bühne zu erkennen ist. Umso ergreifender der Schluss, wenn die Geister der Vergangenheit es noch ein letztes Mal heimsuchen und das Haus … nun ja, wir wollen doch nicht zu viel verraten. [WN]
 

Eine Einladung zur Reflexion!

«Heimsuchung» ist die Bühnenadaption nach dem gleichnamigen Roman der Autorin Jenny Erpenbeck. Sie feierte gerade im Wolfgang Borchert Theater ihre Premiere. Mit diesem ebenso bewegenden wie anspruchsvollen Abend startet Intendantin Tanja Weidner – diesmal auch als Regisseurin und Autorin der Bühnenfassung sowie verantwortlich für Bühne und Kostüme – in die neue Spielzeit. «Heimsuchung» ist ein starker Auftakt und ein Versprechen obendrein: Das Borchert Theater will seine Zuschauer nicht nur bespaßen und unterhalten. In «Heimsuchung» bekommen die grauen Zellen einiges zu tun. In emotionalisierten und dystopischen Zeiten ist dies ausgesprochen wohltuend. Gerade jetzt brauchen wir die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit, um uns in einer zunehmend verunsichernden und polarisierten Gegenwart sachlich, distanziert und kritisch bewegen zu können. Jenny Erpenbeck verarbeitet in ihrem historischen und vielschichtigen Roman aus dem Jahr 2008 Kindheitserinnerungen bei ihren Großeltern in einem Haus am Scharmützelsee in der Nähe von Berlin. «Heimsuchung» wurde 2019 auf die Guardian-Liste der «100 besten Bücher des 21. Jahrhunderts» gesetzt und ist aktueller Lesestoff für das Zentralabitur in NRW. Dass der gefeierte Roman gerade erst für die Theaterbühne adaptiert wurde, hat auch mit der verwobenen Struktur der Erzählung und der poetischen Sprache von Jenny Erpenbeck zu tun. Tanja Weidner ist es gelungen, in ihrer von der Autorin autorisierten Fassung die Ereignisse um das Grundstück und Haus am Scharmützelsee in eindringliche Bilder und packende Szenen zu übersetzen. Die Schicksale der Protagonisten, die nach dem jeweiligen Zeitgeist ausgewählten Kostüme und die klug eingesetzten Requisiten führen durch die Zeit des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des Dritten Reiches, des Zweiten Weltkriegs, des Wiederaufbaus, der DDR und der Wendezeit. Das Ensemble trägt diesen Abend mit beeindruckender Präsenz. Vor allem die schauspielerischen Fähigkeiten von Gregor Eckert (herausragend!), Markus Hennes (wieder zurück!), Ivana Langmajer (klasse!), Rosana Cleve, Katharina Hannappel (sehr bewegend!) und Niclas Kunder, die gleich in mehreren Rollen auftreten, sind überzeugend und wunderbar anzusehen. Neuzugang Carolin Wirth fügt sich perfekt in die Spielweise und Fähigkeiten des Ensembles ein. Und Florian Bender als schweigsamer Gärtner ist die stille Klammer: ein unbeirrbarer Beobachter, der durch die Jahrzehnte schreitet. Herausgekommen ist ein eindrucksvolles Panorama von 100 Jahren deutscher Geschichte. «Heimsuchung» ist damit auch ein Lehrstück dafür, was Zeitläufte und Geschichte mit den Menschen machen und wie sich ihr Denken verändert. Ein Haus am See vor den Toren Berlins, ein wahres Idyll, wird Zeuge eines Jahrhunderts schicksalhafter Veränderungen und historischer Umbrüche. Kaiserreich, Weltkrieg, Wiederaufbau und Wendezeit. Menschen werden geboren, leben, verblassen. Idealisten und Karrieristen, Patriarchen und Freidenkerinnen, Soldaten, Auswanderer und Heimkehrer. In zwölf miteinander verwobenen Lebensgeschichten, Zeitsprüngen und Episoden wird das Haus am See zum Brennglas und Kristallisationspunkt für die Sehnsucht der Menschen nach einem Ort des Friedens. Das Stück zeigt unüberwindbare Grenzen, reflektiert über die Liebe, den Tod und die Suche nach Geborgenheit und Heimat. Doch die Geschichte rollt unerbittlich über das Haus und die dort lebenden Bewohner hinweg. Der Ort erfährt mehrere Metamorphosen. Unter Mozarts Requiem und vor den Augen der ehemaligen Bewohner wird das Haus schließlich in einer Art Epilog dem Erdboden gleichgemacht. Ein starkes, fast erschütterndes Schlussbild. «Heimsuchung» in Münster ist neben den großartigen Ensemblemitgliedern nicht ohne die nach dem jeweiligen Zeitgeist bestimmten Kostüme und die klug ausgewählten Requisiten mit Architektenrolle, Fender, Hollywoodschaukel, Schreibmaschine und Stippangel denkbar. Die Requisiten charakterisieren den besonderen Ort in seiner Zeit, ohne dass der auf der Bühne tatsächlich zu sehen wäre. Das Bühnenbild ist sehr reduziert, fast abstrakt, ein Podest und ein Klavier reichen, hinzu kommt eine Projektionsfläche, auf der Tobias Bieseke in der inzwischen bewährten Zusammenarbeit einige Reels als Zeitdokumente aufblitzen lässt. Der Ort wird ganz durch die Vorstellungen der Zuschauer gefüllt. Tanja Weidner schafft es, den jeweiligen Zeitgeist aufblitzen zu lassen, sodass der Zuschauer immer unmittelbar weiß, in welchem Jahrzehnt er sich befindet. «Heimsuchung» ist kein leichtes Stück, sondern eine Einladung zur Reflexion. Es bietet einen anregenden Theaterabend, der nachdenklich macht und dessen Bilder und Szenen noch lange nachhallen. Sehenswert! [Westfalium]
 

Eine beeindruckende Ensemble-Leistung

Der britische Guardian listet Jenny Erpenbecks Heimsuchung unter den «100 best books oft the 21st century», Oscar-Preisträger Volker Schlöndorff realisiert gerade eine Verfilmung und das Buch wird aktuell auf dem Lehrplan des NRW-Zentralabiturs aufgeführt. Ritterschläge en masse also, und somit Grund genug für das komplett versammelte WBT-Ensemble, den Roman als Theaterstück in der Inszenierung von Tanja Weidner auf die Bühne zu bringen. Im Mittelpunkt stehen ein Grundstück und ein Haus am ostdeutschen Scharmützelsee und wie beide im Laufe von hundert Jahren immer wieder die Besitzer wechseln – vom patriarchalen Großbauern Wurrach in der Kaiserzeit bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts. Es wird allerdings nicht chronologisch erzählt, sondern es gibt immer wieder Rücksprünge und Vorwärtstaster. Sinnbildlich steht dafür ein verwaistes Klavier am Bühnenrand und sein Spiel, das aus dem Off erschallt. Rieselnder Theaterschnee deutet zudem immer wieder mal das Vergehen der Zeit an. «Heimsuchung» ist als Titel zweideutig, Menschen suchen und finden ein Heim, ein Zuhause. Dieses wird aber auch von Menschen heimgesucht, deutlich gesagt wird es in den meisten Fällen des Stücks «okkupiert» – vom wendehalsigen Architekten in der Nazizeit, der die Notsituation einer jüdischen Familie ausnutzt, von Rotarmisten, die es auf dem Siegeszug nach Berlin besetzen, bis hin zu den jeweils neuen Besitzern nach dem Zweiten Weltkrieg und der Wiedervereinigung. «Heimsuchung» betont also die Kontinuität des Hauses und Grundstücks vor der Vergänglichkeit der agierenden Personen und wechselnden politischen Gegebenheiten. Haus und Grundstück sind auf der WBT-Bühne nicht wirklich fassbar, die Video-Art im Hintergrund deutet nur diffus die Gegend an, während das Haus ein quadratischer Block in der Mitte der Bühne ist, auf und neben dem agiert wird. Ein paar verschiebbare Wände und Türen auf diesem Block hätten dem Haus mehr Kontur gegeben, als die eingelassenen Falltüren. Heimgesucht wird nicht nur das Haus, es erlebt in diesen hundert Jahren auch mindestens zwei Vergewaltigungen, wobei besonders die eine stark irritiert – da wird zunächst ein Rotarmist gegenüber der Frau des Architekten übergriffig, doch dann dreht sich allen zugunsten des Mannes und er wird von ihr «geritten». Was im Buch aus der Sicht des Rotarmisten komplex beschrieben wird, aber auch dort schon für Verwunderung sorgte, ist im Stück viel zu verkürzt dargestellt, um erhellend zu sein. Ansonsten: Eine beeindruckende Ensemble-Leistung, die Darsteller wechseln mehrfach ihre Rollen bei den über ein Dutzend Lebensläufen, die hierbewegend miteinander verwoben werden. [Ultimo]
 

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