«Mario und der Zauberer» ist der Beitrag des Wolfgang Borchert Theater in Münster zum 150. Geburtstag des Nobelpreisträgers Thomas Mann. Inszeniert hat das Stück als Gastregisseurin die Italienerin
Luisa Guarro. Mit «Mario und der Zauberer» setzt sie ihre fantastische Arbeit für das WBT weiter fort. Es ist nach «Der König lacht», «Der Sandmann», «Don Quijote» und «Der Teufel und die Diva» die fünfte bemerkenswerte Produktion am Wolfgang Borchert Theater.
Für die Reisenden aus Deutschland – Vater, Mutter und zwei Kinder (wunderbar unbedarft:
Florian Bender,
Rosana Cleve und
Katharina Hannappel) – könnte der Sommer an der italienischen Küste so schön und erholsam sein. Genau davon haben sie geträumt: La dolce vita unter strahlendblauem Himmel am Mittelmeer.
Die Sonne scheint und die Familie wünscht sich nichts mehr als ihren Urlaub am Strand und bei gutem Essen im Grand Hotel zu genießen. Doch sie treffen auf eine Atmosphäre, die unerwartet feindselig ist. Die mondäne italienische Gesellschaft will unter sich bleiben und betrachtet die Fremden aus dem Norden mit offenem Argwohn und unverhohlener Ablehnung. Auf der Terrasse des Hotels mit dem herrlichen Blick auf das Meer werden sie nicht bedient, sie müssen in die Tristesse des langweiligen Speisesaals ausweichen und als der Sohn durch den Husten einer längst abgeklungenen Erkältung auffällt, werden sie kurzerhand von dem arroganten Kellner (Niclas Kunder) aus der feudalen Herberge hinauskomplimentiert. Die Fremden haben in der feinen, italienischen Gesellschaft nichts zu suchen.
Doch die Familie will sich nicht aus ihrem Traumurlaub vertreiben lassen, will nun erst recht bleiben. Man kommt nebenan in der Pension Eleonora unter und hofft in der beginnenden Nebensaison nicht mehr behelligt zu werden. Doch die Schikanen am Strand gehen weiter. Offen tritt ihnen der Nationalismus des faschistischen Italiens entgegen. Unvermittelt wird die beschwingte Schlagermusik von ein paar Schwarzhemden unterbrochen, die auf dem Marktplatz mit ausgestrecktem Arm ihren römischen Gruß zeigen, nationalistische Parolen deklamieren und ihre faschistische Hymne anstimmen. Am Strand erfahren sie weitere Feinseligkeiten, nachdem die neunjährige Tochter ein paar Schritte nackt zum Strand gelaufen ist. Kopfschüttelnd bezahlen sie die offenbar willkürlich angesetzte Strafe.
Zum Höhepunkt des Urlaubs wird die Vorstellung des berüchtigten Magiers und Hypnotiseurs Cipolla (In einer Paraderolle und überaus faszinierend, ja geradezu magisch:
Jürgen Lorenzen). Als ein junger Angeber frech und dreist den Künstler für sein Zuspätkommend angeht, wird dieser kurzerhand von ihm in eine kompromittierende Trance versetzt und muss in der Hypnose willenlos seine Zunge herausstrecken, was das Publikum geradezu köstlich amüsiert und dem jungen Mann eine unvergessliche Lektion erteilt. Dem Magier gelingt es, sein Publikum in seinen Bann zu schlagen. Ein paar Taschenspielertricks genügen, um das Publikum für eine große Hypnose und Massenhysterie vorzubereiten. Tatsächlich ist Cipolla ein Menschenfänger, der aus dem Publikum mit nur wenigen Suggestionen, einem Fingerschnipsen und einem Peitschenknall zu einer willfährigen Masse und schließlich sogar zu einem Tollhaus werden lässt. Die Zuschauer sind völlig enthemmt. Cipolla ist der geborene Führer und erinnert in seiner Überheblichkeit und Suggestionsfähigkeit unmittelbar an den Duce.
Und dann ruft Cipolla den jungen unbedarften Mario (
Florian Bender), den «Ritter der Serviette» auf die Bühne, um mit ihm seinen Schabernack zu treiben. Cipolla beginnt, ihn zu manipulieren, zu demütigen, ihn vor den Augen der Menge zu brechen. Er zwingt ihn, seine tiefsten Gefühle und seinen Liebeskummer zu offenbaren. Mario sieht auf dem Höhepunkt dieses Auftritts völlig willenlos in Cipolla seine Angebetete und küsst den Magier ganz versonnen und verliebt auf den Mund. Das Publikum rast.
Als Mario aus seiner Trance erwacht, fühlt er sich bis auf die Knochen blamiert und wird von tiefer Scham überwältigt. Er weiß sich nicht anders zur Wehr zu setzen: Er greift zu einer Pistole und streckt den Magier auf offener Bühne nieder. Die Menge erstarrt. Ein Moment vollkommener Stille, in der die Maske des Zauberers endgültig zerbricht; wie in einer Zeitlupe stürzt dieser langsam die Treppe herunter und liegt schließlich als besiegter Tyrann am Boden. Der Zauber des Zauberers ist gebrochen. Das Publikum tanzt derweilen willenlos einen Totentanz…
Einmal mehr überzeugt
Luisa Guarro nicht nur als herausragende Regisseurin: Es ist ihre eigene Bearbeitung und Bühnenfassung der Novelle, die sie auf die Bühne bringt und darüber hinaus zeichnet sie als Ausstatterin auch für Kostüme und das Bühnenbild verantwortlich. Daraus ist eine großartige Arbeit aus einem Guss erwachsen, bei der sie voll und ganz auf ein Ensemble vertrauen kann, das ihre Vision engagiert und überzeugend auf die Bühne bringt. Wie schon so oft schlüpfen die Akteure in mehrere Rollen und hauchen ihren Figuren echtes Leben ein. Jürgen Lorenzen füllt die Rolle des Magiers und Hypnotiseurs derart eindringlich aus, dass ihm auch das münsteraner Theaterpublikum gebannt und geradezu atemlos an den Lippen hängt und es vermutlich nur einer weiteren Tranceinduktion bedürfte, dass die Zuschauer im Theatersaal ihm wie einem Cipolla komplett verfallen.
Unübersehbar gibt Luisa Guarro mit ihrer Arbeit ein Statement und folgt damit der Parabel über Macht und Manipulation, wie sie Thomas Mann schon 1930 in seiner Novelle angelegt hat. Ahnungsvoll hatte der Nobelpreisträger drei Jahre vor der Machtübernahme in Deutschland in der Maske des Zauberers nicht nur Mussolini, sondern auch Adolf Hitler gesehen.
Das Stück ist ganz offensichtlich ein Herzensprojekt der Regisseurin. Mit dem von ihr hinzugefügten Epilog spannt sie den Bogen der Ereignisse aus dem Jahr 1926 bis in unsere Tage. Mit der Bemerkung der Erzählerin «Das Fieber ist noch da» warnt sie vor dem neuerlichen Erstarken des Populismus, des Nationalismus und der Rechtsextremen in ganz Europa.
«Mario und der Zauberer» nach der Novelle von Thomas Mann ist in der Bearbeitung von Luisa Guarro ein mitreißender Theaterabend und gerade mit seinen Anspielungen auf die aktuelle politische Entwicklung ein klares Bekenntnis und eine eindringliche Warnung.
In ihrem Schlussmonolog erinnert die Tochter und Erzählerin (
Katharina Hannappel) an die Deklaration der Allgemeinen Menschenrechte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Überwindung des Faschismus. Das war ein großes Momentum und auch Vermächtnis, das aktuell immer häufiger verraten wird und verloren zu gehen droht. «Mario und der Zauberer» überzeugt damit auch als literarisch-politisches Theater. Sehenswert!
[Westfalium]