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Kartentelefon

Yasmina Reza

3 | ANNE-MARIE DIE SCHÖNHEIT
Schauspiel. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel.
Premiere | 23. November 2023
Vorstellungsdauer | 1h30 | Keine Pause

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© Klaus Lefebvre | Edina Hojas | Tanja Weidner

 
«Ich hatte ein glückliches Leben, wissen Sie. Ich hatte kein Filmgesicht.» Eine Grande Dame des Theaters war Anne-Marie nie wirklich. Und eigentlich auch keine Schönheit. Die große Schauspiel-Karriere wollte einfach nicht kommen. Aus der tristen Provinz hat sie es gerade mal bis in ein Pariser Vorstadttheater geschafft. Und während Kollegin Gigi die großen Rollen im Kino spielte, von prominenten Liebhabern umschwärmt wurde und von einer großen Schar zauberhafter Enkel umgeben war, blieb Anne-Marie nur ihr tumber Mann und ein, wie sie findet, missratener Sohn. Doch während Gigi bereits das Zeitliche segnete, lebt Anne-Marie weiter und erträgt stoisch die Herausforderungen des Alterns und ihre Einsamkeit. Statt auf der Bühne zu tanzen, humpelt sie jetzt nur noch ab und zu mit Knieproblemen zum nächsten Supermarkt und knabbert an getrüffelten Cashews. «Es heißt, die glücklichsten Leben sind diejenigen, in denen nicht viel passiert . . .»

Ein zärtlich-melancholischer und unsentimentaler Rückblick auf ein Leben zwischen Bühne und Wirklichkeit, Wunschdenken und enttäuschten Hoffnungen, Illusion und Verbitterung. Und eine Hommage an die Kraft des Theaters.

Yasmina Reza (DER GOTT DES GEMETZELS, «KUNST») gelingt es stets, mit feinem Gespür für die kleinen und großen Katastrophen des Alltags, ganz ohne Übertreibungen oder Effekthascherei, in die Seelenbewegung der Enttäuschten zu blicken. Konsequent hinterfragt sie die Identität eines Menschen: ANNE-MARIE DIE SCHÖNHEIT hat sie explizit für einen Mann geschrieben. Die Uraufführung in Paris spielte André Marcon, in der deutschsprachigen Erstaufführung Robert Hunger-Bühler. Am WBT verabschiedet sich Meinhard Zanger nach 18 Jahren als Intendant mit der poetischen Rückschau eines Künstlerlebens.

Inszenierung | Tanja Weidner
Bühne & Kostüme | Annette Wolf
Light-Design | Hermenegild Fietz
Dramaturgie |  Edina Hojas

Mit | Meinhard Zanger

Trailer



Pressestimmen

Eine alternde Schauspielerin lässt ihr Leben Revue passieren. Im großen Solo-Stück von Yasmina Reza wird sie von einem Mann gespielt. In Münster ist das Meinhard Zanger.

Leise geigt „La vie en rose“, als die alternde Schauspielerin langsam, auf einen Gehstock gestützt, ins Scheinwerferlicht schleicht. Anders als ihre bewunderte Freundin Giselle hat sie nie den Sprung zum großen Star geschafft. Doch heute steht sie ganz allein im Mittelpunkt.

Yasmina Reza hat ihren durchaus umfangreichen Monolog jener Anne-Marie, die die Geborgenheit ihres Provinztheaters aufgab, um in Paris das große Glück und Ruhm zu suchen, explizit für einen männlichen Schauspieler geschrieben. Im Wolfgang-Borchert-Theater stellt sich dessen nach dieser Spielzeit scheidender Intendant Meinhard Zanger selbst dieser reizvollen Herausforderung. Dabei lässt seine hingebungsvoll detailbewusste und respektvolle Interpretation nicht für den Hauch einer Sekunde den Geruch einer clownesken Travestie entstehen. Stattdessen zelebriert „Anne-Marie die Schönheit“ quasi gender-fluid, kaleidoskopisch und mit klugen Verschachtelungen die Kraft des Theaters als Teil des Lebens an sich. […]
Zangers bis in kleinste Regungen ungemein nuanciertes und pointiertes Spiel reibt große, beschwingte und dramatisch aufgeladene Gesten und matte Gebrechlichkeit, mithin Impulse, starke Emotionen und Beschränkungen, aneinander. Immer wieder schlüpft seine Figur dabei zudem in die Rolle der Personen, von denen sie erzählt. Ganz und auf immer Schauspielerin mimt sie ihren vor Wut über ihre Leichtgläubigkeit tobenden Sohn. Oder auch ihre verehrte Freundin, die, selbst in die Jahre gekommen, grimmig mit der Welt hadert. Ihr Ruhm ist kein Trost. „Es heißt, die glücklichsten Leben sind die, in denen nichts passiert“, sinniert Anne-Marie in ihrer Stadtwohnung, die Annette Wolf als ganz in Rot gehaltenes Eckchen zentral auf das Podium gesetzt hat. Eine Bühne auf der Bühne, eine kleine Welt, in der eine Chaiselongue lässige Bohème im Gegensatz zu Anne-Maries Malocherherkunft evoziert und deren begrenzenden Wände schließlich fallen. Ein neuer Horizont entsteht.

Am Ende tost viele Minuten langer Applaus für diese in jeder Beziehung gelungene Inszenierung von Tanja Weidner, die in der nächsten Spielzeit den Staffelstab als WBT-Intendantin von Meinhard Zanger übernehmen wird. Ein den Hauptdarsteller, das Ensemble und das Publikum bewegendes Abschiedsgeschenk, in der Tat. [Westfälische Nachrichten]


[…] „Anne-Marie, die Schönheit“ bietet eine Sternstunde der Schauspielkunst, zumal das Stück auch eine geistreiche Reflexion über das Theater und die Schauspielerei ist. Hinzukommt, dass Meinhard Zanger wie die Hauptperson Anne-Marie Mille, die alternde Schauspielerin, gerade sein Leben als Schauspieler und Intendant Revue passieren lässt.

[…] Die Rolle der Anne-Marie, in die er an diesem Abend schlüpft, verlangt eine authentische und im höchsten Grad glaubhafte Darstellung. Regisseurin Tanja Weidner hat ganze Arbeit gemacht: Meinhard Zanger gelingt daraufhin ein bewegender Spagat mit Bravour: Indem er der traurigen Lebensbilanz von Anne-Marie einen einfühlsamen und lebendigen Ausdruck verleiht, lässt er uns zugleich ein Stück in seine Seele und die Seele eines Schauspielers schauen.

[…] In ihrem anderthalbstündigen Monolog durchläuft Anne-Marie in ihren Erinnerungen die bewegenden Stationen ihres Lebens. Daraus wird das Porträt einer alternden Frau, im Besonderen: einer alten Schauspielerin. Ein Rückblick auf ein Leben zwischen Bühne und Wirklichkeit. Es waren keine großen Auftritte im Scheinwerferlicht, wie es der Titel eigentlich suggeriert. Denn eine Diva wie die von ihr bewunderte Kollegin Giselle Fayolle ist Anne-Marie nie gewesen. Sie hat immer nur die kleineren Rollen abbekommen und eher am Rande der Bühne gestanden.

Diese Anne-Marie, in der wundervollen Interpretation von Meinhard Zanger, schließt man in ihrer schonungslosen Offenheit ins Herz. In den anrührenden Momenten springt man immer wieder hin und her: Von der Rolle zur Person, vom Darsteller zurück zur Rolle. Beides scheint für Momente miteinander zu verschmelzen. Wobei man sich immer wieder kneifen muss, um der Verwechslung nicht auf den Leim zu gehen. „Anne-Marie, die Schönheit“ ist eine Rolle, die Meinhard Zanger als Schauspieler zelebriert und mit jeder Pore, jeder Geste und seiner Stimme ausfüllt. Meinhard Zanger gelingt dies meisterhaft.

[…] „Anne-Marie, die Schönheit“ ist eine Lebensbeichte voller poetischer Tiefe und ein bitteres Klagelied über das Älterwerden. Meinhard Zanger spielt die Rolle seines Lebens ohne Sentimentalität und ohne Selbstmitleid aber mit großer Glaubwürdigkeit. Als Zuschauer sind wir von der ersten bis zur letzten Sekunde gefesselt. Großartig! [Westfalium]


[…] Yasmina Reza schreibt Anne-Maries „gesprochene“ Autobiografie als Monolog. Und der hat es in sich: […] er fordert […] die ganze Spannbreite darstellerischer Fähigkeiten heraus. Ob sie mit großen Augen erzählt von der Schauspieltruppe in der Stadt ihrer Kindheit, ob geradezu plastisch klar wird, dass auf der Chaiselongue Gigi mit blonder Haarpracht sich lasziv ausbreitet und alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, ob Anne-Marie angewidert ist von der Knoblauchfahne ihres Bühnenpartners, all das beschwört Meinhard Zanger in seinem Solo suggestiv herauf. Kann dazu noch andere Personen auf die Bühne zaubern wie den angebeteten, weil so „kultivierten“ früheren Hausarzt. Dabei bleibt er fast hypnotisch in stetem Blickkontakt mit seinem Publikum: „seht her“, scheinen seine Augen zu sagen, „jetzt geht es allein um mich, Anne-Marie, die Schönheit“.

Als Schauplatz für diese Wahnsinns-Performance baut ihm Annette Wolff ein kleines Schmuckkästchen auf die Bühne des Wolfgang-Borchert-Theaters - einen winzigen Raum, dessen Wände mit rotem Samt bezogen zu sein scheinen. Darin stehen ein winziges Sofa und eine kleine Kommode, auf der der Kopf einer Büste liegt. Am Schwung der Lippen ist unschwer zu erkennen, dass Zanger hier selbst Modell gestanden hat. Gekleidet ist er in einen chicen cremefarbenen Hosenanzug.

Mehr als diese Mini-Fläche bedarf es auch nicht für das, was Meinhard Zanger an diesem Abend meisterhaft vorführt: die Entwicklung einer Bühnengestalt mit all‘ ihren Schattierungen. Zanger verwandelt sich in Anne-Marie mit ihren Niederlagen, den kleinen Triumphen, der Angst vor Einsamkeit und Demenz. Für das Publikum ist er die gealterte Schauspielerin trotz seines Geschlechts, trotz seiner Funktion als Intendant, als den ein Großteil der Zusehenden am Premierenabend ihn kennen.

[…] Am Schluss sinken die Wände der kleinen Spielfläche langsam zu Boden, schaffen Platz für Neues: Yasmina Rezas Anne-Marie, die Schönheit ist ein wunderbarer Text, um mit Heiterkeit und einer gehörigen Portion Wehmut zu bilanzieren und Schauspielkunst zu zelebrieren. Meinhard Zanger nutzt die Gelegenheit, greift mit beiden Händen zu. So kennt man ihn! Riesenbeifall! [theaterpur]


Dass Anne-Marie die Schönheit laut der Autorin und meistgespielten zeitgenössischen Dramatikerin Yasmina Reza von einem Mann gespielt werden soll, ist nicht das zentrale Merkmal dieses noch jungen Schauspielst (Uraufführung war 2020), auch wenn es auf den ersten Blick so scheint. In der Theatergeschichte kennt man sowas auch schon lange, spätestens seit mittelalterlichen Kirchenraum-Spielen, in denen Mönche Frauen verkörperten oder der Shakespeare-Bühne, wo Frauen Männerrollen und umgekehrt einnahmen. Es geht vielmehr darum, dass hier eine vordergründig unbedeutende und nicht unbedingt schöne Schauspielerin im Mittelpunkt ihres von ihr selbst erzählten Lebens steht. Es verlief eher erfolglos und langweilig, mit Kleinstrollen am Theater, einer boshaften Mutter, die ihrer Tochter alles abspricht (Talent, Stimme, Aussehen), einem langweiligen Ehemann (aber die Langeweile gehört zur Liebe dazu, sagt sie pointiert) und einem Sohn, der eher Last statt Hilfe im Alter ist und keine Enkel bescherte. Unsere Schauspielerin verkörpert aber nicht nur ihr eigenes Leben, sondern schlüpft auch in die Rollen derer, die sie begleiteten, ohne sich dafür verkleiden zu müssen. Ihr genügt eine Geste hier, ein Beiseitetreten dort, um dem Publikum diese Personen vor Augen zu führen. Im Grunde spielt sie hier ihre größte Rolle mit Erfolg. Und spiegelt sich und ihr Leben in „erfundenen“ Erinnerungen. Der Spiegel im Hintergrund der verkleinerten Bühne (um diese mit einem Schauspieler angemessen auszufüllen) ist das wichtigste Requisit. Um sich in ihm zu spiegeln, muss sich die Akteurin vom Publikum abkehren, das sie/er sonst direkt anspricht wie in einem Interview. Mit dem abkehrenden Hintreten vor den Spiegel tritt jeder einzelne Zuschauer mit vor den Spiegel und reflektiert ihr Dasein.

Eine Drehung mehr bekommt das Stück in der Inszenierung von Tanja Weidner am WBT zudem dadurch, dass mit Meinhard Zanger der scheidende Intendant die Rolle der Anne-Marie spielt. Der hätte mit Sicherheit auch ein Schauspieler-Leben zu erzählen (und wir hörten gerne zu). Er spielt mit gelassener Souveränität, was der Figur der Anne-Marie Würde verleiht und das Publikum tief beeindruckt. [ultimo]